Wie kann ich eigene Wunden heilen und besser mit traumatischen Erfahrungen umgehen? Die Resonanz auf das erste Interview mit Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin Melina Kühl aus Gescher war so groß, dass es hier unseren zweiten Teil gibt.
Außerdem habe ich einige Gedanken und Wünsche von euch mit ins Interview eingearbeitet. Unser Schwerpunkt liegt bei Eltern, deren Kindheit traumatisch gewesen ist und die für ihren eigenen Nachwuchs nur das Beste wünschen.
Elischeba: Während unseres letzten Gesprächs hast du häufig erwähnt, wie wichtig psychologische Hilfe bei traumatischen Erlebnissen ist. Allerdings habe ich von einer Mutter erfahren, dass es momentan kaum möglich ist, neue Gesprächstermine zu bekommen.
Melina: Es ist leider immer schwer, Termine „auf gut Glück“ zu bekommen. Bei einer massiven Krise rate ich dazu, in der zuständigen psychiatrischen Klinik vorstellig zu werden. Dort wird man immer zur Krisenintervention aufgenommen. Außerdem findet meist eine Diagnostik statt, welche dabei helfen kann, den richtigen Therapeuten zu finden.
Was viele nicht wissen: Therapeuten haben auch ihre Fachgebiete. Eine weitere Möglichkeit sind psychosomatische Kliniken – oder auch themenbezogene Kliniken. Dazu benötigt man allerdings auch Diagnosen. Plätze sind mit Wartezeiten verbunden. Bei einer akuten Krise rate ich deshalb dazu, Kontakt zur Klinik aufzunehmen.
Elischeba: Muss man, um Wunden zu heilen, therapeutisch unbedingt richtig tief in die eigene Kindheit zurück gehen?
Melina: Nein, ich denke das ist nicht zwingend erforderlich. Zumal gerade bei Traumata nicht immer alle Umstände voll umfänglich bekannt sind. Für manche Menschen reicht beispielsweise eine Verhaltenstherapie. Anderen hilft eine Ergotherapie. Auch hier sind Menschen ganz unterschiedlich.
Elischeba: In einem meiner Artikel habe ich geschrieben, dass sich ein Burnout unter Eltern langsam ankündigt. Wie ist das mit psychischen Erkrankungen aufgrund Erlebtem? Gibt es Vorboten?
Melina: Auch hier ist es wieder ganz individuell. Es kann beides vorkommen. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich erzählen, dass ich schon als Kind an Depressionen und Magersucht gelitten habe. Das waren meine Vorboten. Ab dem Jugendalter kam dann eine massive Suizidalität dazu. Im Erwachsenenalter – durch das ständige Aus-/ und Durchhalten – kam dann der große Knall. Aber das muss nicht so sein.
Elischeba: Puh, das tut mir leid. Danke dafür, dass du uns das so offen erzählt und damit auch anderen Menschen Mut machst.
Während meiner ersten Mutter-Kind-Kur habe ich der Ärztin beim Gespräch erzählt, dass ich zwei Personen aus meiner Familie am liebsten meide, weil sie mir nicht gut tun und ich mich in deren Umgebung wieder so klein fühle, wie damals als Kind.
Die Ärztin hat mir geantwortet, dass ich eine Art Erlebensvermeidung betreibe. Wie jemand, der am liebsten den kalten Winter überspringt, um schnell wieder den warmen Frühling zu genießen. Da ist sogar etwas dran. Trotzdem geht es mir – so wie ich mein Leben aktuell handhabe – gut dabei. Wie empfindest du den Rat der Ärztin?
Melina: Sehr fragwürdig, wenn ich ehrlich bin. Natürlich reden wir hier von Vermeidung, aber sie ist dann auch notwendig. Wenn eine missbräuchliche, toxische Beziehung besteht, ist es immer sinnvoll, den Kontakt zum „Täter“ ganz oder vorübergehend abzubrechen. Ansonsten befindet man sich ja immer noch mit einem Bein im falschen System und hat keinerlei Möglichkeit, wirklich einmal nur sich selbst zu betrachten. Aber mal ganz von all den fachlichen Meinungen abgesehen: dir geht es gut damit, das ist unterm Strich das Einzige was zählt.
Elischeba: Im letzten Interview hast du mir erzählt, dass einige Menschen keine Kinder planen, da sie Angst davor haben, das weiterzugeben, worunter sie selbst gelitten haben. Ich finde, dass es schonmal ein Schritt nach vorne ist, sich dieser Gefahr bewusst zu sein. Was können Betroffene sonst noch tun?
Melina: Um erlernte Verhaltensmuster nicht zu wiederholen ist es wichtig, das eigene Verhalten und den dahinter steckenden Motivator immer wieder zu hinterfragen. Oft kann eine Verhaltenstherapie hierbei helfen, denn häufig verhalten wir uns entgegen dem wie wir es wollen und das hat Gründe.
Man arbeitet dann daran, sich dies immer mehr ins Bewusstsein zu holen und die losgetretene Kettenreaktion zu unterbrechen. Dabei kann man erkennen, dass ein anderes Verhalten nicht gleich Gefahr bedeutet, sondern durchaus heilsam wirken kann.
Elischeba: Mir hat eine liebe Jugendfreundin erzählt, dass sie mit der Gewalt in der eigenen Kindheit erstaunlich gut umgehen konnte. Bis sie mit ihrem dritten Kind schwanger wurde. Plötzlich haben sie die Erinnerungen eingeholt – so wie nie zuvor.
Leider litt sie anschließend zwei Jahre lang unter Depressionen und musste auch vom Arzt verschriebene Medikamente nehmen. Woran kann das liegen, wenn Beschwerden erst so viele Jahre nach dem Erlebten auftreten?
Melina: Der Mensch und sein Geist sind zu Erstaunlichem fähig. Das fällt mir immer wieder auf. Verdrängen ist ein Überlebensmechanismus, der uns in den Genen liegt.
Ist ein Individuum – ein System – mit der vorhandenen Situation derart überfordert, dass der Zusammenbruch droht, spaltet unser Geist Erinnerungen und Tatsachen auf. Das kann so weit gehen, dass Amnesien entstehen. Was bei deiner Freundin passiert ist, kann ich absolut nachvollziehen.
Die Geburt muss für sie eine Art Trigger gewesen sein, wodurch das Unterbewusstsein das Verdrängte nicht mehr halten konnte. Das funktioniert halt immer nur eine Weile, auch wenn diese Weile Jahre oder Jahrzehnte sein können. Hinzu kommen natürlich mit einer Geburt auch Ängste, etwas falsch zu machen. Zum Beispiel die Sorge davor, Erlebtes zu wiederholen. Nichts zeigt einem das, was man braucht und was einem fehlte, mehr als das eigene Kind, für das man es ja so gänzlich anders möchte.
Elischeba: Das kann ich mir gut vorstellen. Eine Leserin hat mir geschrieben, dass die Zuneigung ihres Vaters von guten Noten und Leistung abhängig war. Sie schätzt, dass sie durch diese Erfahrungen heute ein übertriebenes Pflichtbewusstsein hat und sich durch Perfektionismus das Leben schwer macht. Welchen Tipp hast du für sie?
Melina: Wenn sie selbst merkt, dass ihr das nicht gut tut, könnte sie versuchen, mal eine Sache weniger am Tag zu machen. Dann kann sie schauen, ob dadurch etwas Schlechtes entsteht oder ob sie es gut aushalten kann.
Elischeba: Ein guter Tipp, den gebe ich ihr gerne weiter! Außerdem habe ich nach unserem ersten Gespräch nochmal über Probleme mit den eigenen Eltern nachgedacht. Man mag nicht vergessen können. Doch habe ich festgestellt, dass Vergebung eigene Wunden heilen kann. Oder zumindest schwächer werden lässt. Arbeitest du als Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin auch mit diesem Ansatz?
Melina: Ich kann mich nicht erinnern, einem Klienten mal einen derartigen Tipp gegeben zu haben, da ich ihn für das Individuum nahezu frech finde. Verstehe mich bitte nicht falsch, aber das, was ich meinen Klienten versuche zu vermitteln, ist, dass sie aufhören sollen, die Schuld bei sich zu suchen.
Das ist die Vergebung, die ich anrate. Manchmal erkläre ich auch welche Mechanismen beim Gegenüber wirken, damit er sich so verhält, aber das ist auch alles. Ich habe da, vielleicht auch durch meine eigenen Erfahrungen, ganz drastische Ansichten und ganz besonders bei Kindern sind meine Grenzen erreicht.
Fotografin: MinElly
Elischeba: Als Kind und Jugendliche habe ich Gewalt im Elternhaus in Stille ertragen und in mich reingefressen. Wie kann man, wenn man selbst Mutter ist, mit unterdrückter Wut umgehen?
Melina: Das ist ein schwieriges, komplexes Thema. Grundlegend kann man sagen: jeder Mensch hat Anrecht auf seinen Ärger und Frust. Wut und dergleichen sind in der Menschlichkeit verankert. Aus meiner persönlichen Sicht kann ich berichten, dass es enorm lange Zeit funktioniert Wut zu unterdrücken. Allerdings ist das kein guter Weg. Wenn man sich selbst nicht zuhört und Gefühle unterdrückt, dann sucht sich die Seele Mittel und Wege damit man achtsam wird.
Bei mir haben unterdrückte Wut und Trauer letztlich zu Panikattacken geführt und der Weg dort raus ist lang. Ich kann nur jedem raten zu versuchen sich selbst ein Ohr zu schenken. Achtsam mit sich zu sein und seine Gefühle zu fühlen. Oft haben Menschen – gerade wenn es um das Thema Wut geht – Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn man diese aber lebt kann es langfristig der Heilung dienen und schützt davor, dass sie irgendwann unkontrolliert herausbricht.
Elischeba: Probleme werden oft von Generation zu Generation weitergegeben. Inwiefern können Familienaufstellungen helfen und welche Erfahrungen hast du dabei gemacht?
Melina: Bei diesem Vorgehen geht es ja hauptsächlich um Wirkmechanismen. Ich denke es ist ein ganz gutes Medium, um Dinge zu veranschaulichen und zu erkennen, welche Wechselwirkungen das Verhalten verschiedener Individuen haben kann.
Vielleicht kann es auch einen Denkanstoß dahingehend geben, ein falsches System zu verlassen. Man kann dabei erkennen, dass man alten Pfaden folgt oder mit sich selbst zu viel machen lässt.
Elischeba: Wir haben beim letzten Gespräch auch über Resilienz gesprochen. Wie können wir diese stärken?
Melina: Ich glaube eine wichtige Komponente ist Stabilität. Hierbei rede ich weniger von einem Job, obwohl das auch Autonomie bedeuten kann.
Viel wichtiger ist aber ein stabiles, authentisches Umfeld. Sprich Freunde. Wirklich gute Freunde, die eigene Familie und Bezugspersonen. Wenn man als Kind schlechte Erfahrungen gemacht hat, hatte dies meist massive Auswirkungen auf das Urvertrauen, was zu einem ständigen Gefühl der Instabilität führen kann. Es kostet enorm viel Kraft. Wenn man um sich herum aber einen sicheren Hafen schafft, so kann einem das enorm viel zurückgeben.
Elischeba: Ja, Menschen, die einen so lieben, wie man ist, sind unglaublich wohltuend. Ein anderes Thema: Wie gehe ich mit verpassten Chancen um? Was macht ein Erwachsener, der als Jugendlicher nicht den Wunschberuf ausüben durfte?
Melina: Ich denke es könnte helfen, sich selbst vor Augen zu führen, was man stattdessen erreicht hat. Welche charakterlichen Eigenschaften man entwickelt hat, obwohl der Weg schwierig war. Was man geschafft hat, obwohl man etwas anders machen musste, als man gewollt hat. Man sollte dem, das man womöglich nicht erreicht hat, nicht hinterher trauern. Denn wenn es wirklich unerreichbar bleibt, dann ändert auch eine negative Haltung nichts mehr daran.
Es ist okay, wenn man sich gestattet, ab und an traurig um und für sich selbst zu sein, aber das sollte dann auch irgendwann wieder aufhören. Denn sonst verpasst man womöglich noch mehr. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass es nie zu spät für etwas ist. Es ist nie zu spät, um etwas zu tun, was man für sich selbst tut.
Elischeba: Liebe Melina, die Gespräche mit dir sind wohltuend, tiefgründig und helfen, Erlebtes mal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich danke dir ganz herzlich dafür und hoffe, dass du auch viele meiner Leser mit deinen liebevollen und weisen Worten ermuntern konntest.
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Oh Teil 2 tut auch so gut. Eine tolle Serie, ich könnte mehr von euch lesen!
Autor
Das freut mich wirklich sehr, Dankeschön, liebe Samira!
Hallo Elischeba,
diese beiden Artikel finde ich irgendwie heilsam zu lesen, da ich auch mein Päckchen zu tragen habe.
Dankeschön dafür, auch an die liebe Melina Kühl!
Dagmar
Autor
Wie schön, liebe Dagmar.
Vielen Dank und weiterhin alles Gute.
Bis jetzt habe ich niemanden näher kennengelernt, der nicht in irgendeiner Form ein Päckchen zu tragen hat. Darum lese ich solche Artikel gerne, ohne dass man diese Themen tabuisiert! Auch unsere psychische Gesundheit ist wichtig. Darum ist es wichtig es anzugehen, bevor man in ein tiefes Loch fällt!!! 😊🍀
Autor
Ganz genau, liebe Becci!